Reporter Jan Tussing besucht die erste Siedlung der Hessischen Heimstätte in Kassel und trifft auf Helga Dangeleit, die seit 81 Jahren im „Kuni“ lebt.
Der Mietvertrag von Helga Dangeleit ist ein historisches Zeitdokument. Die 81-jährige Kasselanerin sitzt an ihrem Küchentisch und hält das leicht vergilbte Papier in den Händen. In altdeutscher Schreibweise steht hier ihre Wohnungsmiete: 47 Reichsmark und 20 Pfennig. "Meine Mutter, Frau Hildegard Zessnat, hat da hinten unterschrieben", sagt Helga Dangeleit. "Gar nicht mein Vater." Die Eltern von Helga Dangeleit kamen 1939 nach Kassel. Hier trat ihr Vater als Musterzeichner bei Kadruf eine Stelle an. Die Kasseler Druckerei und Färberei Kadruf war das zweitälteste Unternehmen der Stadt und eines der ältesten Hessens. Im Stadtteil Bettenhausen waren damals viele Fabriken und Industrien angesiedelt. So kamen Dangeleits Eltern in die Siedlung Kunigundishof nach Kassel.
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Ein Mietvertrag in Reichsmark ausgestellt
Helga Dangeleit war 1939 gerade geboren. Heute wohnt die inzwischen 81-jährige Dame immer noch in derselben Zweizimmerwohnung. "Da hinten, das Schlafzimmer war damals mein Kinderzimmer, daneben das Elternschlafzimmer, und die Küche war der Aufenthaltsraum." 1939 war die kleine Wohnung im zweiten Stock natürlich anders eingerichtet, sagt die gebürtige Kasselanerin. Geheizt wurde noch mit Kohle, aber baulich habe sich nichts verändert. Nur das Bad wurde selbstverständlich modernisiert: "Das war damals ein richtiges Badezimmer mit Wasserboiler und einer schönen Badewanne auf Füßen, die heute wieder aktuell wäre." Fast schon eine Komfortwohnung, sagt die alte Dame und zeigt auf den Mietvertrag. Eine Komfortwohnung für rund 47 Reichsmark. Das entspricht 1939 einer Kaufkraft von rund 160 Euro – auch für die damalige Zeit sehr moderat. "Deswegen sind wir auch geblieben", betont Helga Dangeleit. Sie hat ihr gesamtes Leben gearbeitet, "aber das war auch nicht zum Hurra schreien". Auch ihr Ehemann verdiente nicht mehr viel Geld, nachdem er früher in Rente ging. Deswegen blieben die Dangeleits im Kunigundishof wohnen, zusammen mit der Mutter.
Helga Dangeleit verbrachte ihr gesamtes Leben im gleichen Haus. Nur einmal zog es sie in die Ferne. Als Kadruf 1965 Konkurs anmeldete, suchten sich die Dangeleits eine neue Stelle. In Ochtrup, einem kleinen Städtchen nahe der niederländischen Grenze. Aber dort hielten es die Dangeleits nur ein halbes Jahr aus. "Mir hat es gar nicht gefallen", sagt sie. "Es war alles so flach, kein Buckel und kein Berg." Helga Dangeleit hatte Heimweh. Und so beschloss das Paar bereits nach einem halben Jahr zurück nach Kassel zu gehen. Dort fand die Kasselanerin eine Anstellung in der Innenstadt, als Verkäuferin. Selbstverständlich blieb sie in der "Kuni" wohnen. So wird die Siedlung Kunigundishof von ihren Bewohnern genannt.
Die Geschichte des Kunigundishofs in Kassel
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Einmal Kuni, immer Kuni?
"Also wenn ich ehrlich bin, ich wollte oft hier weg", gesteht Helga Dangeleit heute. Aber ihre Mutter fühlte sich hier wohl. Und als dann gesundheitliche Probleme ihres Mannes begannen, entschloss sie sich zu bleiben, auch aus finanziellen Gründen. "Aber ich hatte oft den Drang wegzugehen, das gebe ich offen zu." Denn Bettenhausen hatte lange Zeit nicht den besten Ruf. "Wegen der vielen Fabriken hat es oft gemüffelt", erinnert sich Helga Dangeleit. "Aber ich habe dazu gestanden, das hat mir nichts ausgemacht und heute bin ich verwurzelt."
Im Kunigundishof fanden viele Kasselaner modernen, bezahlbaren Wohnraum
Der soziale Gedanke beim Wohnungsbau
Der Kasseler Kunigundishof ist etwas ganz Besonderes, denn er gehört zu den großen Kasseler Wohnungsbauprojekten der 1920er Jahre, als Kassel in großem Stil günstigen Wohnraum schuf. Er war die erste Siedlung, die im Besitz der Hessischen Heimstätte blieb. Getragen vom sozialen Gedanken entstand er unter der Federführung des Architekten Zimmerle 1929 im Rahmen eines Notprogramms. Ziel war die Schaffung von Kleinwohnungen für einkommensschwache Personenkreise. Zur Zeit der Weimarer Republik lebten im Stadtteil Bettenhausen schließlich vorwiegend Arbeiterfamilien. 1929 aber stürzte die Weltwirtschaftskrise viele Menschen in die Arbeitslosigkeit, mit dramatischen Folgen. "Im Kunigundishof fanden viele Kasselaner modernen, bezahlbaren Wohnraum", sagt Carsten Millat. Er ist der zuständige Kundenbetreuer des NHW-Servicecenters Kassel und begleitet für die Wohnstadt die Erneuerung und Sanierung der Wohnungen im Kunigundishof. "Mehrheitlich sind es schlicht ausgestattete Wohnungen, die Mitte der 80er Jahre nachsaniert wurden", sagt er. "Aber im Rahmen des Mieterwechsels versuchen wir die Wohnungen an den marktfähigen Zustand heranzubringen, um die Mieten zu erzielen."
Die Siedlung Kunigundishof ist ein soziales Wohnprojekt, hufeisenförmig angelegt um eine katholische Kirche herum, die der Siedlung ihren Namen gab. Bis heute ist die Anlage gut erhalten, trotz der Bombe, die im Zweiten Weltkrieg im hinteren Teil einschlug. Und der soziale Gedanke spielt auch heute noch eine Rolle, sagt Carsten Millat. "Der Mietvertrag von Frau Dangeleit ist seinerzeit mit 47 Reichsmark und 20 Pfennigen abgeschlossen, aber der hat sich natürlich im Laufe der Jahrzehnte ein Stück weit nach oben entwickelt – zu unserer Freude."
Ein unschlagbares Preisleistungsverhältnis
Helga Dangeleit ist seine älteste und langjährigste Mieterin. Inzwischen verlangt Carsten Millat auch keine Reichsmark mehr. Christiane Irle durfte ihren Mietvertrag in Euro abschließen. Sie ist Millats jüngster Neuzugang in der Siedlung. Für 53 Quadratmeter zahlt Irle 319 Euro kalt. Zwei Zimmer, Küche, Bad. "Noch dazu ein Tageslichtbad", freut sie sich. Ein unschlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis. "Es ist richtig schwierig, noch zu normalen Preisen eine Wohnung zu bekommen", sagt sie. "Da ist die Wohnstadt noch mit unter den günstigsten."
Christiane Irles Umzug mit Hindernissen
Christiane Irle lebt seit Mitte Oktober in ihrer Zweizimmerwohnung. Sie ist mitten in der Corona-Pandemie in die Siedlung eingezogen, aber eigentlich arbeitet sie in Hildesheim. Dank der Homeoffice-Regelung ihres Arbeitgebers durfte sie nach Kassel ziehen. Einer der wenigen Vorteile in der Corona-Pandemie. Sie ist sehr dankbar dafür, denn sie wollte näher bei ihren Eltern sein, die ebenfalls in der Siedlung Kunigundishof wohnen. Seit über 40 Jahren. Christiane Irle hat schon einige Nachbarn kennengelernt. "Man begegnet sich im Hausflur und dann wird ein kleines Pläuschchen gehalten." Dabei war der Tag ihres Einzugs sehr dramatisch. "Mein großer Sohn sollte den Umzugswagen fahren, aber dann rief er an und sagte 'Ich kann nicht kommen'." Die Freundin ihres Sohnes war hochschwanger und bekam genau am Umzugstag ihre Wehen. Christiane Irle musste den Umzugswagen also selbst fahren. Den Tag wird sie nicht vergessen. Am 19. Oktober genau um 20.16 Uhr kam dann ihr Enkel auf die Welt, einen Monat zu früh. Aber die Geburt stand ganz offensichtlich unter einem guten Stern, denn Christiane Irle fühlt sich wohl in ihrem neuen Domizil.
Helga Dangeleit und Christiane Irle sind sich bis dato noch nicht begegnet, denn sie wohnen jeweils auf der anderen Seite der katholischen Kirche. "Ich bin jetzt das Überbleibsel", scherzt Helga Dangeleit mit ihren 81 Jahren. "Ich sag immer, ich bin eine Antiquität." Aber dafür kennt die alte Dame alle Menschen im Haus. Sie habe ein nettes Verhältnis zu ihren Nachbarn. "Zwar sehe ich sie nicht oft, aber wir kommen bestens miteinander aus."
Der Stadtteil Bettenhausen hat sich in 100 Jahren stark verändert und steht vor großen Veränderungen. Die Stadt Kassel arbeitet zusammen mit der ProjektStadt, der Stadtentwicklungsmarke der Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte | Wohnstadt, an einer grundlegenden Stadtteilentwicklung. Mittendrin der Kunigundishof, wie ein Fels in der Brandung. Die fast 200 Wohnungen geben kleinen Familien ein sicheres und erschwingliches Zuhause und sind ein gutes Vorbild dafür, wie sich der soziale Gedanke bei Wohnbauprojekten langfristig auf die Zukunft auswirkt. "Ich bin dankbar, dass ich noch in der Wohnung alleine wohnen und aufs Fahrrad steigen kann", sagt Helga Dangeleit. "Natürlich mache ich keine Touren mehr nach Hann. Münden und zurück mit dem Fahrrad, das kann ich nicht mehr, aber ich fahre trotzdem noch ein bisschen." Auch nach 81 Jahren – und etlichen Modernisierungen – fühlt sich Helga Dangeleit in der Siedlung Kunigundishof wohl. Die Nachbarschaft wird jünger und auch bunter, aber so lange sie aufs Fahrrad steigen kann, ist ihre Welt in Ordnung.