Im August 1955 reist Albert Schweitzer nach Frankfurt und schaut dabei auch in der Zentrale der Nassauischen Heimstätte und der nach ihm benannten Frankfurter Siedlung vorbei. Jetzt sind bisher unentdeckte Filmaufnahmen vom Besuch des Nobelpreisträgers aufgetaucht.
Es gibt eine Reihe von Einrichtungen und Siedlungen in Deutschland, die nach Albert Schweitzer benannt sind. Dass der weltberühmte Arzt, Theologe und Friedensnobelpreisträger sie selbst besucht und dort eine Wohnung besessen hat, ist schon etwas Besonderes. Umso aufgeregter waren wir, als sich in einem Regal unseres Archivs eine Kiste mit Filmrollen fand, darunter eine kleine Schachtel mit der Aufschrift „Besuch von A. Schweitzer am 29. Aug. 1955“. In der Hoffnung, dass die Aufnahmen die letzten sechzig Jahre unbeschadet überstanden hatten, gaben wir sie direkt an einen Experten zur Digitalisierung. Ein paar Wochen später kam die Box inklusive einer digitalen Kopie zu uns zurück. Tatsächlich hatten wir Glück: Wenn auch ohne Ton, sind die erhaltenen Filmaufnahmen in einer guten Qualität. Sie zeigen nicht nur Albert Schweitzer in Frankfurt, sondern auch die nach ihm benannte Siedlung im Entstehen und viele ehemalige Mittarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nassauischen Heimstätte. Der Film nimmt uns mit auf eine kleine Zeitreise in die Wiederaufbau- und Wirtschaftswunderjahre, die für die NH damals stark mit der Albert-Schweitzer-Siedlung verknüpft sind.
Die Albert-Schweitzer-Siedlung entsteht
Zusammen mit den Gesellschaften Süwag, Mavest und der Evangelischen Baugemeinde baut die NH in den 1950er Jahren eine der größten Frankfurter Siedlungen der Nachkriegszeit. Mit dem ersten Spatenstich für die Siedlung im Jahr 1949 beginnt die Umwandlung des ehemaligen Moor- und Ackerlandes zwischen den beiden Frankfurter Stadtteilen Dornbusch und Eschersheim. Insgesamt werden hier in den nächsten Jahren 1.500 Wohnungen gebaut, darunter mehr als 110 Einfamilienhäuser. Sie gehen in Privatbesitz über, wohingegen in den Mehrfamilienhäusern größtenteils Sozialwohnungen entstehen. Markantestes Gebäude der Siedlung wird ein 13-geschossiges Wohnhaus mit 90 Ein-Zimmer-Appartements. Mit 40 Metern Höhe gilt es damals als das höchste Wohnhaus der Mainstadt. Am 15. Juni 1955 feiert die NH das Richtfest für die Albert-Schweitzer-Siedlung. Zu den prominenten Gästen gehören neben dem damaligen Geschäftsführer Paul Müller auch der französische Generalkonsul Pierre Françoise Giuly, der damalige Hessische Innenminister Heinrich Schneider und Heinrich Kraft, Direktor der Landesversicherungsanstalt Hessen. Albert Schweitzer ist nicht vor Ort – noch nicht.
Schweitzers Besuch im August 1955
Am 28. August 1955 nimmt Schweitzer an der Verleihung des Goethepreises an Annette Kolb in der Frankfurter Paulskirche teil. Danach besucht er die nach ihm benannte Schule am Berkersheimer Weg im Stadtteil Frankfurter Berg. Einen Tag später, am 29. August 1955, fährt Albert Schweitzer zum Stammhaus der Nassauischen Heimstätte am Untermainkai in Frankfurt. Mit Geschäftsführer Paul Müller begibt sich der Nobelpreisträger des Jahres 1953 in die nach ihm benannte Siedlung, die noch größtenteils eine matschige Baustelle ist. Während des Rundgangs soll Schweitzer laut einem Bericht der Frankfurter Rundschau den Wunsch geäußert haben, man möge doch Obstbäume zwischen den Häusern pflanzen, damit die Kinder die Möglichkeit hätten, im Herbst die Früchte von den Bäumen zu stehlen. Dieser Wunsch wurde ihm bisher nicht erfüllt, Obstbäume finden sich keine auf dem Areal. Was aber heute noch viele Bewohner der Albert-Schweitzer-Siedlung schätzen: Der städtebauliche Entwurf von NH und Stadtbaurat Fr. W. Bossert folgt dem Leitbild der durchgrünten und aufgelockerten Stadt. Rund um die fächerförmig angeordneten, leicht versetzten, viergeschossigen Zeilenbauten finden sich auch heute noch viele Grünflächen, Bäume und Sträucher.
Ein weiterer Wunsch Schweitzers wird tatsächlich erfüllt, nämlich „eine kleine Wohnung für mich vorzusehen, wo ich ein bisschen daheim sein könnte“. In der Ziegenhainer Str. 1 stellt die NH ihm eine Wohnung zur Verfügung. Wohnen wird Albert Schweitzer dort jedoch nie, er gibt die Räumlichkeiten nach einiger Zeit an Bedürftigere weiter. 2005 feiert die NH mit den Bewohnern anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Albert-Schweitzer-Siedlung ein großes Sommerfest. Ein Mieter erzählt damals, Schweitzer bei seinem Besuch der Siedlung gesehen zu haben. Die Verbundenheit der Bewohnerinnen und Bewohner mit ihrer Albert-Schweitzer-Siedlung und dem Namensgeber bleibt bestehen. Heute erinnert eine Plakette an die enge Verbindung des Frankfurter Ehrenbürgers zur Stadt.