Willkommen am Aschenberg
Die Fuldaer Siedlung Aschenberg ist seit den 1960er Jahren Ankunftsort und Heimat für viele tausend Menschen. Reporter Jan Tussing besucht das Quartier mit einst zweifelhaftem Ruf und trifft Menschen, die am Aufbau mitgearbeitet haben, noch heute gerne dort leben oder das Zusammenleben einfacher machen.
Audioreportage "Willkommen am Aschenberg": Hören Sie rein!
Dragica Tadic ist eine Frau der ersten Stunde. Als die gebürtige Jugoslawin vor knapp einem halben Jahrhundert mit ihrem Ehemann Mirko an den Aschenberg nach Fulda zog, war die Siedlung noch so gut wie neu. In den 1960er und 1970er Jahren werden hier 3.000 Wohnungen gebaut. Die Dreizimmerwohnung von Dragica Tadic befand sich im Erdgeschoss und die Eingangstreppe zum Hochhaus fehlte noch. „Wir mussten wir über den Balkon ins Haus klettern“, erinnert sie sich. „Das war verrückt.“
Frau Tadics Haus in der Erfurter Straße hat 24 Wohneinheiten und ist in sehr gutem Zustand. Die schlanke Frau mit den kurzen, grauen Haaren steht vor ihrem Wohnblock und erzählt: „Ich kenne alle, die hier wohnen. Wenn Neue einziehen, bin ich schon hier draußen und frage: Wo kommen Sie her und wo ziehen Sie hin?“ Dragica Tadic fühlt sich nämlich für die Hausordnung verantwortlich. „Im Jahr 1972 wurde mein erster Sohn geboren, so lange leben wir nun schon hier.“ Der Aschenberg ist ihre neue Heimat. Die resolute Kroatin aus der Nähe von Zagreb kam mit ihrem Mann zum Arbeiten nach Deutschland. Am Aschenberg fand sie bezahlbaren Wohnraum und fühlt sich bis heute wohl. „Wir leben hier wie eine große Familie“, betont sie.
Vom deutschen Reißbrett zum bunten Quartier
Die Wurzeln der Siedlung liegen in den 1960er Jahren. Damals schreibt die Stadt Fulda für das 200 Hektar große Areal am Aschenberg einen städtebaulichen Wettbewerb aus. Es herrscht großer Wohnraummangel, nicht zuletzt aufgrund der vielen Heimatvertriebenen aus dem Osten. Den Ideenwettbewerb für den Stadtteil gewinnt die Hessische Heimstätte aus Kassel im Jahr 1963. Innerhalb weniger Jahre entstehen knapp 3.000 Mietwohnungen. Viele davon werden an Familien mit geringen Einkommen vergeben, meist über einen Wohnberechtigungsschein. So siedeln sich neben den vielen deutschen Familien, die in Fulda Arbeitsplätze fanden, auch immer mehr Menschen aus europäischen Nachbarstaaten an. Sogenannte Gastarbeiter finden am Aschenberg eine neue Heimat und integrieren sich schnell.
Auch Hans Bolender kennt den Aschenberg von Beginn an. Bevor der Architekt in den 1980er Jahren Zweigstellenleiter der Wohnstadt in Fulda wird, ist er auch am Entstehen der Aschenberg-Siedlung maßgeblich beteiligt. An ihrem Entwurf ist heute ersichtlich: So viele so nahe beieinanderstehende Hochhäuser waren damals nicht geplant. Bolender erzählt, dass zunächst eine Mischbebauung vorgesehen war. Einfamilien- und Reihenhäuser sowie zwölfgeschossige Hochhäuser sollten durch großzügige Grünanlagen aufgelockert werden. „Der preisgekrönte Entwurf der Hessischen Heimstätte sah allerdings wesentlich weniger und niedrigere Hochhäuser vor als später dann gebaut wurden“, so der Architekt. Es wurde stark verdichtet, was Hans Bolender im Nachhinein als Fehler betrachtet. „Es wurde ausschließlich wirtschaftlich gedacht.“
Eine Familie mit zwei Kindern hatte Anspruch auf 72 Quadratmeter Wohnfläche. Die Wohnungen waren mit Heizungen ausgestattet, es gab Bäder mit fließend Warm- und Kaltwasser. Auf dem Land damals nicht unbedingt überall Standard. Allerdings gibt Bolender zu bedenken: „Als im Jahr 1972 die ersten 800 Wohnung bezogen wurden, brauchte jede Familie einen Wohnungsberechtigungsschein. Das war vielleicht ein Fehler“, sagt Bolender. „Einen Mischwald legt man ja auch nicht nur mit Laubholz an.“ Besser verdienende Familien hätten eine gute Ausstrahlung auf sozial schwache Familien haben können. Als eine Art „Orientierungshilfe“.
Aus "Little Chicago" wird "Klein Moskau"
Ende der 1970er Jahre entwickelt sich das Wohngebiet auf dem Aschenberg weiter. Das Baugebiet Aschenberg-Ost entsteht. Auf vorwiegend kleineren Grundstücken wachsen Einfamilienhäuser. Zu dieser Zeit gelten die Planungen für das Aschenbergplateau als Beispiel für modernen Städtebau. 1982 kommen die Amerikaner. In einem nördlichen Wohngebiet beziehen amerikanische Soldaten höheren Ranges mit ihren Familien 34 Zweifamilienhäuser. Auch in zwei Hochhäusern der König-Konrad-Straße und in einem Block der Adenauerstraße leben bis zum Abzug aus Fulda ausschließlich Soldaten aus den USA.
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands im Oktober 1990 werden alle US-Amerikaner aus Fulda abgezogen. Die Stadt verliert ein Zehntel ihrer Bevölkerung. Ein starker Einschnitt. Auch am Aschenberg werden nach 20 Jahren plötzlich viele Wohnungen frei, die direkt von einer „neuen Minderheit“ übernommen werden: Deutsche Spätaussiedler aus Russland kommen nach Fulda und geben sich mit den US-Soldaten die Klinke in die Hand.
Bis 1998 ziehen 4.000 Russlanddeutsche nach Fulda. Von ihnen leben 1.500 auf dem Aschenberg, sie freuen sich über bezahlbaren Wohnraum. Der Aschenberg wandelt sich erneut. Kulturen prallten aufeinander. „Das war erst nicht so schön, die haben überall ihre Sonnenblumenkerne hingespuckt. Das war so schlimm“, sagt Dragica Tadic. Aber dann habe sie die Neuen zur Rede gestellt. „Ich habe gesagt: Ihr seid neu, also passt euch gefälligst an!“ Dragica lächelt verschmitzt: „Ich war hier wie ein Hausmeister und habe das alles in Schuss gehalten. Es braucht halt immer jemanden, der Verantwortung übernimmt“, sagt sie. „Seitdem klappt das super.“ Dragica Tadic ist die gute Seele des Hauses in der Erfurter Straße 15. Aber nicht alle Häuser auf dem Aschenberg haben so resolute Menschen wie Dragica Tadic, die für Ordnung sorgen und auf die neuen Bewohner zugehen.
Drei Zimmer, Küche, Bad statt sibirischer Steppe
Von der Erfurter Straße 15 bis zur Adenauerstraße 5 ist es nur ein kurzer Fußweg. Hier, im Mieterstreff der NHW, hat auch Yvonne Schön ihr Büro. Die Sozialpädagogin arbeitet für den gemeinnützigen Verein B.O.J.E., den Jugendmigrationsdienst am Aschenberg, eine Beratungseinrichtung für junge Menschen mit Migrationshintergrund. Yvonne Schön kümmert sich seit 20 Jahren mit Herzblut und Leidenschaft um die Bewohner in der Siedlung. Sie berät junge Menschen in allen Angelegenheiten des Alltags. „Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich zum Aschenberg gekommen bin“, sagt sie. „Da war ich gerade ein Jahr mit meinem Studium fertig. Es gab ein Projekt, das sich an russlanddeutsche Jugendliche richtete, die in dem Stadtgebiet sehr auffällig waren. Und ich weiß noch genau, damals dachte ich: Das wird vielleicht ein bisschen schwierig.“
Der Aschenberg hatte Mitte der 1990er Jahre einen zweifelhaften Ruf und schaffte es immer wieder in die nationalen Medien – die Umschreibungen reichten von "Wodka-Berg" bis "Netto-Ghetto". In der Wohnsiedlung lieferten sich türkische und russische Gangs gewalttätige Auseinandersetzungen. Krawalle am Aschenberg waren an der Tagesordnung und die Medien berichteten sensationsgierig. „Die jungen Russen sind in einer anderen Kultur groß geworden, in dünn besiedelten Gebieten Russlands. Da gab es einfach mehr Freiheiten. Sie konnten angeln gehen, Hasen jagen und durch die Steppe reiten. Am Aschenberg steckte man sie in ‚Drei Zimmer, Küche, Bad‘ auf 60 Quadratmeter“, erklärt Yvonne Schön. Erst als die Probleme am Aschenberg größer wurden, merkten die zuständigen Behörden, dass es keine soziale Infrastruktur für die Neuankömmlinge gab. „Außerdem war damals auch die Willkommenskultur eine andere. Die Menschen wurden in Deutschland nicht gerade mit offenen Armen empfangen“, erzählt Schön.
Deswegen wurden Sozialpädagoginnen angestellt und in den Räumen der Wohnstadt in der Adenauerstraße 5 der Mietertreff gegründet. Als Anlauf,- und Beratungsstelle für die vielen Ankömmlinge, die kaum Deutsch sprachen und Hilfe im Alltag brauchten. Zu diesem Zweck wurde sogar eine ganze Wohnung zum Büro umgebaut. Hier arbeiten seitdem Yvonne Schön und ihre Kollegin Gabriele Rötzer. Sie stehen mit Rat und Tat zur Seite und helfen beim Bewerbungsschreiben, bei der Wohnungssuche, bei der Kontoeröffnung oder beim Ausfüllen von Anträgen fürs Kindergeld.
Der Aschenberg als Integrationsmotor
Inzwischen hat sich die Lage am Aschenberg beruhigt. Das Fernsehen ist längst nicht mehr regelmäßig da, um über Missstände zu berichten. Im Gegenteil. Das ZDF hat sogar eine Doku-Serie gedreht, um die Entwicklungen zu zeigen. Yvonne Schön blickt positiv auf ihre 20 Jahre am Aschenberg zurück. Sie hat zu den Jugendlichen von damals immer noch gute Kontakte und betreut inzwischen sogar deren Kinder. Auf die Frage, ob sie eine Empfehlung habe, wie eine Siedlung heute aussehen müsste, um den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden, winkt sie ab: „Also ich habe da auch kein Rezept. Es gibt ganz viele Leute, die sich in den Hochhäusern wohlfühlen.“ Und dann gebe es andere, die fänden es ganz schrecklich, im Erdgeschoss zu wohnen, wo ständig Menschen an ihrer Tür vorbeilaufen würden, erzählt Schön: „So individuell die Menschen sind, so individuell sind auch die Bedürfnisse, wie der Wohnraum sein soll.“
Inzwischen kümmert sich Yvonne Schön nicht mehr hauptsächlich um Russlanddeutsche. Mit den vielen Geflüchteten aus Syrien, Somalia und Afghanistan komme eine neue Generation von Bewohnern an den Aschenberg, mit neuen Anforderungen und neuen Problemen. Und wieder wird klar, wie wichtig die Arbeit von Yvonne Schön ist: „Ich glaube, in 20 Jahren wird es noch genauso sein wie heute“, sagt sie. „Es wird immer wieder neue Einreisewellen geben, und Menschen werden immer wieder auch bezahlbare Wohnungen brauchen. Diese werden sie am Aschenberg finden.“ Auch die nächste große Herausforderung, die Integration der Geflüchteten, werden die Menschen auf dem Aschenberg meistern. Und B.O.J.E. wird sie dabei unterstützen, allen voran Yvonne Schön. „So lange unser Verein finanziert wird, bleibe ich auch“, sagt die Sozialarbeiterin und lächelt: „Ich könnte mir jedenfalls keinen schöneren Arbeitsort als den Aschenberg vorstellen.“