Ihre Expertise in Sachen Stadt- und Projektentwicklung stellt die Unternehmensgruppe üblicherweise Kommunen in Hessen und Thüringen zur Verfügung. Was nur wenige wissen: In den 2000er Jahren war die NHW auch als Partner in die Entwicklungsprojekte anderer Nationen eingebunden.
Es war ein Jahrzehnt voller interessanter Einblicke in Bauprojekte und Strukturmaßnahmen anderer Länder, erinnert sich Hans Fürst, der damalige Unternehmensbereichsleiter für Stadt- und Projektentwicklung im Ausland. Die Nassauische Heimstätte gehörte Anfang der 2000er Jahre zu den ersten deutschen Landesentwicklungsgesellschaften, die außerhalb der heimischen Grenzen aktiv waren. "Ausgangspunkt für uns waren die Aktivitäten des Landes Hessen in seinen Partnerregionen in Polen und der Russischen Föderation sowie Forschungs- und Entwicklungsprojekte der EU zur Wohn- und Lebenssituation älterer Menschen, aus denen sich dann Netzwerke und weitere Projekte entwickelt haben", beschreibt Fürst die damalige Motivation für den Aufbau des neuen Geschäftsfeldes. Den wirtschaftlichen Rahmen der Projekte bildeten entsprechende Förderfonds, die die EU beispielsweise zur Entwicklung benachteiligter Regionen aufgelegt hatte. "Die Nassauische Heimstätte engagierte sich in Form von Beratung, Konzeptentwicklung und Projektentwicklung für Dritte. Unsere vielfach nachgewiesene Expertise und die enge Vernetzung mit kommunalen und regionalen Institutionen hat uns viele Türen in Süd- und Osteuropa geöffnet", so Fürst im Rückblick.
Italienisches Infrastrukturprojekt für sanften Tourismus
Eines der ersten Auslandsprojekte führte Fürst und sein Team 2002 in die süditalienische Provinz Salerno. Dort waren die Stadt- und ProjektentwicklerInnen der Nassauischen Heimstätte Teil eines Teams aus fünf Kommunen und der Provincia di Salerno, das mit Fördergeldern der EU einen 35 Kilometer langen Küstenstreifen im Sinne eines sanften Tourismus neu beleben sollte. "Dieser Küstenabschnitt am Übergang der amalfitanischen Küste in die Ebene des Flusses Sele wurde bis dahin fast ausschließlich von Einheimischen besucht. Unsere Beratung war nicht zuletzt gefragt, um die Infrastruktur mit Blick auf ein internationales und insbesondere deutsches Publikum weiterzuentwickeln", erinnert sich Fürst an die damalige Aufgabenstellung. Dabei brachte die Nassauische Heimstätte ihre langjährige Erfahrung in der Moderation interkommunaler Partnerschaften ein, um für die Provinz Salerno und die sechs beteiligten Kommunen ein ganzheitliches Organisationsmodell zu erarbeiten. Mit Erfolg: Zu den städtebaulichen Maßnahmen, die im Zuge des übergeordneten Gebietsentwicklungsplans umgesetzt wurden, zählt mit 35 Kilometern einer der längsten Radwege Italiens.
Russische Musterstadt für Wärmeenergieeinsparung
Als Projekt mit großem Potenzial bleibt auch die Beratung der nahe Moskau gelegenen Stadt Korolev in Erinnerung, die von der russischen Regierung als Modellstandort für energieeffiziente Wärmeversorgung ausgewählt wurde. Die NHW war dort von 2005 bis 2007 als Teil eines länderübergreifenden Konsortiums tätig, das im Rahmen eines Pilotprojekts eine dezentrale und verbrauchsorientierte Energieversorgung nach westeuropäischem Vorbild realisieren sollte. Fürst: "Dabei ging es nicht nur um ein skalierbares Modell für die bauliche Planung und Ausführung energetisch sanierter Wohngebäude, sondern auch um ein tragfähiges Finanzierungsmodell für diese Herkulesaufgabe."
Der von den Projektpartnern entwickelte Lösungsansatz, eine Kombination von Einnahmen aus dem europäischen Emissionshandel und Beleihung der aus der Modernisierung resultierenden Verbrauchseinsparungen, war insofern wegweisend, als er den Kommunen erstmals eine wirtschaftliche Perspektive für die Erneuerung der vielerorts veralteten Wärmeversorgungsinfrastruktur eröffnete. Zugleich bedeutete die Umstellung auf eine verbrauchsabhängige Wärmekostenabrechnung einen wichtigen Anreiz für die Verbraucher, möglichst effizient zu heizen – auch das ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Umweltbilanz. Am Ende der zweijährigen Zusammenarbeit zog die NHW ein gemischtes Fazit: Das Pilotprojekt mit 72 Wohnungen konnte erfolgreich umgesetzt werden und überzeugte mit einem Energieeinsparpotenzial von rund 90 Prozent. Dass das Modell letztlich nicht im großen Maßstab ausgerollt wurde, lag insbesondere an veränderten politischen Verantwortlichkeiten auf deutscher wie auf russischer Seite, was Fürst angesichts der vielversprechenden Ergebnisse bis heute bedauert.
Revitalisierung von Altbauten in Poznan
Häufig ging es bei der Beratung ausländischer Auftraggeber um die Verbindung planerischer und baurechtlicher Fragen mit der Entwicklung von Modellen zur Finanzierung der vorgeschlagenen Maßnahmen, so auch in Poznan, das zur polnischen Partnerregion des Landes Hessen Woiwodschaft Wielkopolska gehört. Im Rahmen einer von EU, Bund sowie dem Bund polnischer Städte geförderten Public Private Partnership (PPP) erarbeitete die Nassauische Heimstätte 2007 für das kommunale Wohnungsunternehmen Zarząd Komunalnych Zasobów Lokalowych (ZKZL) ein Sanierungskonzept. Hintergrund war der voranschreitende Verfall zahlreicher Altbauten und das Ziel, diese teils denkmalgeschützten Gebäude in ihrer Funktion für das Stadtzentrum von Poznan zu erhalten. "Niedrigstmieten von 50 Cent pro Quadratmeter für sozial schwache Haushalte oder gar ein monatelanger Ausfall von Mietzahlungen machten es für kommunale wie private Eigentümer nahezu unmöglich, in die grundlegende Sanierung der Gebäude zu investieren", erinnert sich Fürst an die schwierige Ausgangssituation. Zugleich fehlten rund 1.800 Sozialwohnungen, um den Bewohnerinnen und Bewohnern der sanierungsbedürftigen Gebäude adäquaten Ersatz anbieten zu können. Auf Basis einer umfassenden Analyse entstand bis zum Abschluss des Projekts in 2011 ein praxisorientierter Handlungsleitfaden für die Kooperation öffentlicher und privater Investoren und Hauseigentümer.
Die Gründe für das Ende der Auslandstätigkeit
Nach nur einem Jahrzehnt schloss die NHW ihre Beratungsprojekte im Ausland Ende der 2000er Jahre ab und entschied sich, keine neuen Aufträge zu übernehmen. "An Projektideen und Nachfrage mangelte es nicht", erinnert sich Fürst. Der Grund lag vielmehr in der fehlenden Planungssicherheit und Abhängigkeit von der jeweiligen politischen Großwetterlage. Fürst: "Zu oft blieb es bei vielversprechenden Pilotprojekten, deren Umsetzung im größeren Maßstab daran scheiterte, dass die Auftraggeber und Projektpartner wechselten und ihre Nachfolger andere Prioritäten setzten. Fürst möchte die damals gemachten Erfahrungen dennoch nicht missen: "Für mich, und ich denke, ich darf auch sagen, für die beteiligten Kolleginnen und Kollegen, waren die Einblicke in die planerischen Herausforderungen anderer Länder unglaublich bereichernd und den persönlichen Horizont erweiternd." Heute konzentrieren die Stadt- und ProjektentwicklungsexpertInnen der NHW ihre Expertise auf die Regionen, in denen ihre Konzepte und Maßnahmen größtmögliche Wirkung erzielen: Hessen und Thüringen. Dennoch gehört das Auslandsengagement der 2000er Jahre zweifelsohne zu den erinnerungswürdigen Momenten der Firmenhistorie.
Hans Fürst
Dipl.-Soziologe Hans Fürst war über 30 Jahre in unterschiedlichen Funktionen in der Immobilienwirtschaft, der Stadtentwicklung und in der Projektentwicklung für die Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte | Wohnstadt tätig, davon über 20 Jahre als Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft für Stadt- und Projektentwicklung. Im Rahmen seiner Tätigkeiten hat er zahlreiche Fachvorträge gehalten und zu einer ganzen Reihe von Publikationen beigetragen. 2008 wurde er in die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) berufen. Aktuell widmet er sich neben seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten in Sport und der Politik auch weiterhin der Stadt- und Regionalentwicklung. Seit 2011 ist er Mitglied der Darmstädter Stadtverordnetenfraktion Bündnis 90/Die Grünen und seit 2016 Mitglied der Regionalversammlung Südhessen.