Matschepampe am Trelement-Bungalow
1970 eröffnet im Garten der NH-Unternehmenszentrale ein Betriebskindergarten, der nicht nur futuristisch aussieht, sondern auch in der Konzeption seiner Zeit weit voraus ist.
Als Frau Gerth aus Kassel den wabenartigen Bau im Garten der Nassauischen Heimstätte am Frankfurter Schaumainkai sieht, trifft sie eine Entscheidung, die auch das Leben ihrer Tochter prägen wird. "Meine Mutter fand den Kindergarten so toll, dass sie direkt in die NH-Zentrale marschiert ist und gefragt hat, ob sie hier als Schreibkraft arbeiten kann", erzählt Antje Gerth. Damals wohnt die Familie noch in Kassel, Antje Gerths Vater arbeitet jedoch bei der Rentenversicherung in Frankfurt, die sich noch heute in nächster Nähe zur NH am Schaumainkai befindet. Frau Gerth bekommt tatsächlich den gewünschten Job als Schreibkraft.
Die Familie zieht nach Frankfurt und Antje besucht zwischen 1972 und 1976 besagten Betriebskindergarten – zunächst vormittags, als Schülerin kommt sie zur Nachmittagsbetreuung. Doch die Entscheidung der Mutter hat noch weitreichendere Folgen: Antje Gerth ist der NHW bis heute treu geblieben. Nach dem Abitur 1989 macht sie zuerst eine Ausbildung zur Diplom-Archivarin und studiert anschließend Geschichte, arbeitet heute aber für die NHW. Sie leitet mittlerweile den Fachbereich Mietforderungen / Nebenkosten Kassel der Unternehmensgruppe und wohnt auch wieder in Nordhessen. Bei der Frage, ob sie der Kindergarten auch beruflich zur NHW geführt habe, lacht sie erst einmal: "Ich bin mit der Heimstätte aufgewachsen, das verbindet. Auf jeden Fall hat mich der Kindergarten geprägt. Später habe ich ein Praktikum in diesem Bereich gemacht, weil ich selbst überlegt habe, Erzieherin zu werden. Da habe ich aber erst verstanden, wie anders unser Kindergarten damals war."
Viel Platz und ein Sandkasten mit eigenem Wasseranschluss
Besonders war schon das hochmoderne, leichte Erscheinungsbild des Gebäudes bestehend aus insgesamt drei Waben. Die vorgefertigten Module stammten aus dem sogenannten Trelement-System, dessen dreieckigen Einzelelemente man je nach Bedarf zu unterschiedlichen Formen zusammensetzen konnte. In Zusammenarbeit mit dem Stadtschulamt wurde der Flachbungalow mit 275 Quadratmetern Fläche am 1. Juli 1970 seiner Bestimmung als Betriebskindergarten der Nassauischen Heimstätte übergeben – aber auch Kinder aus der unmittelbaren Nachbarschaft durften die Einrichtung im Garten des Firmensitzes besuchen. "Wir hatten innen und vor allem außen unheimlich viel Platz", schwärmt Antje Gerth noch heute. "Es gab eine Spielwiese mit Bauklötzen, Puppen und Kuscheltieren und eine Terrasse mit Tischtennisplatte. In den alten Bäumen hingen Autoreifen, auf denen man schaukeln konnte. Der riesige Sandkasten hatte sogar einen Wasseranschluss, so konnten wir aus Sand und Wasser Matschepampe herstellen." Zwischen zehn und 15 Kinder bildeten jeweils eine Gruppe des Kindergartens, es gab eine mit Kindern im Alter von drei bis vier Jahren und eine für "die Großen" zwischen fünf und sechs Jahren. Die Öffnungszeiten waren an die Arbeitszeiten der Heimstätte angepasst, auch eine Ganztagsbetreuung gab es – Luxusbedingungen für die damalige Zeit.
Der Betriebskindergarten lockt junge Mütter an
"Für mich wird vor allem der Garten immer in Erinnerung bleiben", erinnert sich Viola Krauss. "Das war ein richtiger Dschungel, in dem wir uns völlig frei bewegen konnten." Auch sie besuchte als Mitarbeiterkind den Betriebskindergarten und wie Antje Gerth arbeitet sie immer noch bei der NHW, nach der Ausbildung zur Immobilienkauffrau ist sie heute in der Projektabwicklung & Akquisition Süd tätig. Ihre Mutter, Helga Krauss, hat ebenfalls schon im Unternehmen gearbeitet. Die Nassauische Heimstätte als Arbeitgeber hatte ihr damals eine Bekannte empfohlen – wegen der guten Bedingungen für Frauen mit Kindern. "Sonst hätte meine Mutter das nicht hinbekommen, Vollzeit zu arbeiten", sagt Viola Krauss. Durch den Kindergarten direkt neben dem Büro konnte sie ihrem Beruf als Sekretärin weiter nachgehen, wurde später sogar Sekretärin des Leitenden Geschäftsführers. Tochter Viola spielt ab 1970 mit vier Jahren vormittags am Schaumainkai. "Ich fand die Leiterin Frau Löffler und die zwei Erzieherinnen sehr nett und erinnere mich an die tollen Faschingsfeiern mit den bunten Kostümen. Und daran, dass mir ein Junge, mit dem ich Friseur spielte, die Haare abgeschnitten und mit Klebstoff wieder angeklebt hat", lacht Viola Krauss. Sie mochte auch die fest eingeplanten Mittagsschläfchen, bei denen alle Kinder in großer Runde ein Nickerchen machten – Snoezelen würde man das heute wohl nennen.
Vorzeigeprojekt mit kleinen Fehlern
Ob sich die beiden Mädchen im Kindergarten jemals begegnet sind, wissen sie heute nicht mehr, aber Antje Gerth kann sich auch noch an die Schlafrunden erinnern: "Ich habe den Mittagsschlaf gehasst, das war mir zu gezwungen. Vieles was in den 1970er Jahren pädagogisch akzeptiert war, würde man heute nicht mehr machen. Auch wer seinen Teller am Mittagstisch des Kindergartens nicht aufessen wollte, musste sitzen bleiben", ärgert sich Gerth. "Meine Eltern haben mich anders, freier erzogen. Sie haben immer gesagt, dass wir alles besprechen können. Deswegen wollte ich auch immer alles diskutieren, das muss den Erwachsenen damals tierisch auf die Nerven gegangen sein", sagt sie und schmunzelt. Dennoch gilt der NH-Kindergarten zu seiner Zeit als Vorzeigeprojekt. Nicht nur wegen seiner besonderen technischen Konstruktion wurde er mehrfach von Vertretern hessischer Gemeinden besichtigt. Modellcharakter hatte er auch in der pädagogischen Konzeption, so fanden geistig behinderte und verhaltensauffällige Kinder dort ebenfalls Platz – damals keine Selbstverständlichkeit. "Die Erzieherinnen haben sich auch sehr bemüht, jedes Kind nach seinen Möglichkeiten zu fördern. Es gab Instrumente für musikalische Früherziehung oder gemeinsames Turnen", erzählt Antje Gerth. "Sie haben großen Wert auf Sprachvermittlung gelegt, wir haben zum Beispiel Bilder angeschaut und sollten danach eine Geschichte dazu erzählen. Ich konnte schon mit vier Jahren lesen und schreiben, dazu hat meine Zeit im NH-Kindergarten viel beigetragen."
Mitte der 1980er wird das Experiment NH-Kindergarten beendet: Das auf dem Nachbargrundstück beheimatete Postmuseum, heute Museum für Kommunikation, will sich vergrößern und braucht Platz. Die NH stellt für einen Museumsneubau Teile ihres Gartens zur Verfügung. 1990 wird der spektakuläre Glasbau nach Plänen des Büros Behnisch & Partner eröffnet. Der Betriebskindergarten ist Geschichte, geblieben ist der familienfreundliche Geist der NHW, so können Mitarbeiter:innen heute bei Betreuungsnotstand ihre Kinder zum Beispiel mit ins eigene Büro oder ein spezielles Eltern-Kind-Büro nehmen. Auch einige der schönen, großen Bäume und Teile des Gartens sind noch da – und natürlich Antje Gerth und Viola Krauss mit ihren Erinnerungen an einen ganz besonderen Kindergarten.