Neues Leben am Fluss
Gelungener Wiederaufbau eines historischen Stadtteils durch städtebauliche Rekonstruktion – dafür steht die Unterneustadt in Kassel. Heute pulsiert dort, am Ufer der Fulda, das Leben. In den 90er Jahren vielbeachtet: Das Wohnstadt-Konzept "Wohnen ohne Auto", das in Fragen der Nachhaltigkeit seiner Zeit weit voraus war.
Die Kasseler Unterneustadt blickt auf eine lange und bewegte Geschichte zurück: Ende des 13. Jahrhunderts am rechten Ufer der Fulda als Brückenkopf angelegt, hieß sie zunächst Neustadt, erst Ende des 17. Jahrhunderts erhielt sie den noch heute gültigen Namen. Von Turbulenzen blieb der Stadtteil wahrlich nicht verschont: Durch die Lage am Fluss hatten die Bewohner durch die Jahrhunderte häufig mit Hochwasser zu kämpfen. Bei einem Bombenangriff 1943 wurde der pittoreske Fachwerk-Stadtteil nahezu komplett zerstört. Im Zuge des Wiederaufbaus wurde er jedoch als Wohnquartier nicht mehr reaktiviert, sondern planiert und unter dem Aspekt der "autogerechten Stadt" als zentrumsnaher Gratis-Parkplatz sowie als Gelände für Zirkus und Jahrmärkte genutzt.
Wie die "Stadt am Fluss" neu entstand
Erst in den 1980er Jahren kamen Überlegungen auf, über einen Neuaufbau dieser doch so günstig gelegenen Brache mit rund 2,5 Quadratkilometern Fläche nachzudenken – unter dem Motto "Stadt am Fluss". 1994 wurde dies durch die Stadtverordnetenversammlung beschlossen. Verbunden mit einem breit angelegten Fachdialog kam eine sogenannte "kritische Rekonstruktion" des alten Stadtgrundrisses von 1943 zum Tragen. Jürgen Bluhm, Leiter des Regionalcenters Kassel der Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte I Wohnstadt (NHW), im Rückblick: "In der Unterneustadt wurde vom damaligen Projektteam bewusst auf die Methodik zurückgegriffen, die im Rahmen der internationalen Bauausstellung Berlin Ende der 1980er Jahre aufgekommen und auf große Resonanz gestoßen war. Dabei handelt es sich keineswegs um eine pseudohistorische Kopie des Stadtteils!" Die Planer der eigens von der Stadt Kassel gegründeten Projektentwicklungsgesellschaft PEG Unterneustadt orientieren sich vielmehr an den prinzipiellen Strukturen dieses historischen Stadtteils: Grundriss, Parzellen, Gebäudehöhen, Dichte und funktionale Komplexität. Eine solche Konzentration auf die Ursprünge und frühere Qualitäten war zugleich der Beginn einer Absage an den langjährig praktizierten Städtebau in der Phase des raschen Wiederaufbaus der Nachkriegszeit.
Neu: Entwicklung im Bürgerdialog
Aber nicht nur der Städtebau und die Architektur standen im Fokus dieses bundesweit vielbeachteten Modelbeispiels mit seinen innovativen Ansätzen. Dazu Matthias Otto, Leiter des Servicecenters Kassel der Wohnstadt: "Ganz wesentlich war damals der bürgerorientierte Entwicklungsprozess, der es erlaubte, dass auch Kriterien und Wünsche thematisiert oder gar realisiert wurden, die im normalen Stadtentwicklungsalltag bis dato oft keine Berücksichtigung fanden."
Im dialogbasierten Prozess wurden räumliche Konzeption, Zeitrahmen, Akteursstrukturen und Verfahren miteinander verknüpft. Eine Reihe wichtiger Gremien wurden ins Leben gerufen. Sie arbeiteten von Beginn an Hand in Hand für dieses außergewöhnliche Projekt: ein Fachbeirat, ein Kuratorium und das selbstständige "Forum Unterneustadt", bestehend aus bis zu 30 Vertreter:innen aus Politik, Bürgerinitiativen, Investoren und sonstigen relevanten Zielgruppen. Aktiv involviert in das gesamte Verfahren waren Helmut Feußner, von 1981 bis 1999 technischer Geschäftsführer der Hessischen Heimstätte und später der Wohnstadt, sowie Dirk Schumacher, ab 1999 technischer Geschäftsführer der Wohnstadt und von 2005 bis 2013 auch Geschäftsführer der Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte I Wohnstadt (NHW).
Lebenswertes Wohnquartier mit vielen Funktionen
Unter dem Leitmotiv "Wohnen in der Stadt ohne Auto" entstand so ab 1997 ein abwechslungsreiches modernes Wohnquartier mit hoher städtebaulicher Dichte und vielfältigen Funktionen, naturnah direkt am Ufer der Fulda, für rund 4.500 Einwohner:innen. Im Jahr 2000 wurde mit der Walter-Lübcke-Brücke (zu dieser Zeit noch Karl‐Branner‐Brücke) der Weg zur unmittelbar benachbarten Innenstadt verkürzt und die infrastrukturelle Anbindung perfektioniert.
Als Teil der damaligen Gesamtkonzeption konzentrierte sich die Wohnstadt mit ihren Projektpartnern auf Entwurf, Entwicklung und Bau von zwei Straßenblöcken, die sich von den übrigen, sie umgebenden eher kleinteiligen Arealen abhoben: Beide waren im 17. Jahrhundert Teile der Befestigungsanlage und dienten später – bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg – als Waisenhaus. Der soziale Aspekt einer Neuentwicklung war allein durch diese Historie vorprogrammiert.
Entstanden sind dort:
Anzahl der Wohnungen | 78 |
Wohnfläche insgesamt | 6.309,5 m² |
Durchschnittliche Wohnfläche je WE | 77,5 m² |
Umbauter Raum | 33.359 m3 |
Geschossflächenzahl | 0,5 – 2,0 |
Grundstücksgröße | 7.582 m² |
Gesamtkosten brutto | 1,1 Mio. Euro |
Baukosten brutto | 1.138 Euro/m² |
Jahr der Fertigstellung | 1999/2000 |
Ganz wesentlich für den Aspekt der Nachhaltigkeit als Teil der sozial-gesellschaftlichen Verantwortung waren die Niedrigenergiebauweise, das vielfältige Wohnungsangebot für unterschiedlichste Zielgruppen, die dort platzierten Läden zur Versorgung, ein Gemeinschaftsraum, ein Werkhof sowie eine Kindertagesstätte. Durch das "Wohnen ohne Auto" war eine hohe Freiraum-Qualität garantiert. Spielstraßen, geschützte Gartenhöfe, bepflanzte Freiflächen mit privaten, aber auch Gemeinschaftsterrassen, Dachterrassen und -gärten komplettieren das "grüne" Angebot der Neubebauung. Auch ohne einen PKW blieb die Mobilität der Anwohner:innen gewahrt – mit passenden Carsharing-Angeboten und einer guten Anbindung an den ÖPNV.
Im Rahmen der Fachmesse Expo Real 2002 in München wurde an das Projekt im Oktober 2002 der 2. Preis beim DIFA-Award in der Kategorie "Quartiere im städtischen Kontext" vergeben. Die Preisträger waren grundsätzlich Stadtentwicklungsprojekte, die sich durch "hohen innovativen Gehalt, Sozialverträglichkeit im Stadtteil, Nachhaltigkeit und integrierte Planung" auszeichneten. Das wurde auch der Unterneustadt zugesprochen.
Zwei Jahre später erhielten die Bauherren Wohnstadt, Vereinigte Wohnstätten und das Gemeinnützige Siedlungswerk Frankfurt gemeinsam mit ihren Architekten für die Unterneustadt den "Bauherrenpreis 2004" der Aktion "Hohe Qualität – tragbare Kosten", ausgelobt vom BDA (Bund Deutscher Architekten), DST (Deutscher Städtetag) sowie dem
GdW (Bundesverband Deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e. V.).
In der Begründung zu ihrem Votum würdigte die Fachjury des "Bauherrenpreises 2004" die beiden Blöcke als herausragendes Beispiel für innenstadtnahes und zukunftsorientiertes "Wohnen ohne Auto":
Im Rahmen des Projektes "'Wiedergründung der Unterneustadt' in Kassel – Kritische Rekonstruktion der im Zweiten Weltkrieg zerstörten mittelalterlichen Stadterweiterung auf historischem Stadtgrundriss" haben vier Bauherren und fünf Architektengruppen ein "Stück Stadt" in zwei Baublöcken realisiert.
Auf Initiative der Bauherren wurde ein dialogischer Planungsprozess mit den Vertretern der kommunalen Verwaltung, den politischen Mandatsträgern, der Projektentwicklungsgesellschaft, dem Planungsbeirat und den Architekten organisiert. Ergebnis ist ein qualifiziertes städtebaulich-architektonisches Konzept, das Städtebau mit den Mitteln des Wohnungsbaus betreibt. Ein besonderes Element in diesem Planungsprozess war die Zusage der Bauherren zu Beginn des Verfahrens, dass alle Architekten an der Baurealisierung beteiligt werden, ohne dass zunächst festgelegt wurde, welches Büro mit welcher Bauaufgabe beauftragt wird.
Dies hat die Entwicklung innovativer, zukunftsfähiger Lösungen besonders gefördert. Die beiden Baublöcke sind als "autonomes Quartier" im Rahmen eines Konzeptes, das innerstädtische Dichte in zentraler Lage mit besonderen Freiraum-Qualitäten verbindet, entwickelt worden. Das Wohnungsangebot besteht aus einem interessanten Gemenge von Maisonette- und Geschosswohnungen sowie Reihen- und Stadthäusern.
Die Erdgeschosswohnungen haben größtenteils direkten Zugang von der Straße beziehungsweise vom öffentlichen Platz und sind teilweise mit Raumhöhen von drei Metern gebaut worden, um eine Umwandlung in gewerblich genutzte Erdgeschossräume zu ermöglichen. Der Gemeinschaftsraum mit Küche und der Werkhof sind sozialer Treffpunkt der Bewohner und Zentrum von ehrenamtlicher Bürgerarbeit. Die zum Teil höheren Baukosten sind durch erschwerte Gründung (Trümmerschutt, Altlasten-Problematik, Hochwasserschutz usw.) entstanden.
Foto: Dr. Kai Österreich