Mit dem "Wanderzirkus" auf großer Fahrt
Etwas von der Welt sehen und das Leben genießen – die 1950er Jahre bringen auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Nassauischen Heimstätte ein neues Lebensgefühl. Mit der Heimstätten Gemeinschaft geht es zum Wandern in den Odenwald und später sogar ins Ausland.
Alles begann mit einer Wander- und Jugendgruppe, die sich auf Anregung des damaligen Geschäftsführers der Nassauischen Heimstätte, Paul Müller, zusammenfand. Vom Firmensitz in Frankfurt aus startete man mit den beiden betriebseigenen VW-Bussen zu Touren in die Region. Bald schon erhielt die eingeschworene Truppe von den Kolleginnen und Kollegen den liebevoll spöttischen Beinamen "der Wanderzirkus" verliehen. "Man muss sich nur einmal gedanklich in das Nachkriegsdeutschland der 1950er Jahre zurückversetzen, um ermessen zu können, welch großartige Sache dieses vom Unternehmen geförderte Freizeitangebot war", sagt Margit Kloth, die sich neben ihrer Arbeit bei der Nassauischen Heimstätte ehrenamtlich im Vorstand der Heimstätten Gemeinschaft engagiert. Kloth: "Damals hatten die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nassauischen Heimstätte kein Auto, um Orte abseits der Bahnstrecken besuchen zu können. Zugleich waren die Aufbruchstimmung und der Wunsch, etwas zu erleben, riesengroß."
1,75 Mark für ein Wochenende im Ferienheim
Reisen ins Ausland konnten sich Anfang der 1950er Jahre nur wenige der Deutschen leisten. Hauptsache rauskommen, lautete die Devise. So führten die Ausflüge der Wandergruppe der Nassauischen Heimstätte in den ersten Jahren meist in den Taunus, Odenwald oder Vogelsberg. Vor allem das idyllisch an einem Stausee gelegene Örtchen Hillersbach im Vogelsberg wurde zu einem regelmäßig besuchten Ort, wo das Unternehmen ein ausgedientes Wirtschaftsgebäude der Landesversicherungsanstalt Hessen als Übernachtungsmöglichkeit nutzen konnte. Die Nachfrage war so groß, dass sich die Geschäftsführung Mitte der 1950er Jahre dazu entschloss, in Lichtenberg im Odenwald ein eigenes Ferienheim für die Mitarbeiter und ihre Familien zu bauen. Zugleich wurde zur Organisation des Freizeitangebots ein aus Mitgliedsbeiträgen finanzierter und vom Unternehmen bezuschusster Verein gegründet: Die Heimstätten Gemeinschaft war geboren. Für 1,75 Mark einschließlich Fahrtkosten konnten die Mitglieder der Heimstätten Gemeinschaft ein Wochenende im Odenwald verbringen. Nicht-Vereinsmitglieder und Familienangehörige zahlten, wenn noch Plätze frei waren, etwas mehr. Wer eine Auszeit vom Alltagstrubel suchte, konnte sich bis zum Mittwoch jeder Woche anmelden. Der Bus fuhr jedes Wochenende, sofern sich genügend Mitreisende zusammenfanden.
Aus einem Werbeprospekt zum Ferienheim Lichtenberg: "Top ausgestattet und in bester Lage"
"... Lichtenberg nicht zu kennen, heißt, eines der schönsten Fleckchen des Hessenlandes noch nicht gesehen zu haben. Über das Ferienheim: Moderne Dusch- und Waschanlagen erfrischen Sie nach sportlicher Betätigung. Wenn Sie aber lieber die Sonne anbeten, gibt es auf dem großen Grundstück auch dafür ein ruhiges Fleckchen. Und was tun Sie abends oder wenn es mal regnet? Sie öffnen zwei Klapptüren und schauen auf den Bildschirm des Fernsehapparates, wenn Sie nicht eine Unterhaltung oder ein Spiel mit den Kollegen vorziehen …"
Mit dem VW-Bus nach Paris
"Noch außergewöhnlicher waren für die damalige Zeit die gemeinsamen Fahrten ins benachbarte Ausland, die die Heimstätten Gemeinschaft ab 1956 organisierte", weiß Margit Kloth aus den Erzählungen älterer Mitglieder. Geschäftsführer Müller stellte dem Verein großzügigerweise sein Ferienhaus-Grundstück im Tessin zum Zelten zur Verfügung oder es ging mit den VW-Bussen zum Urlaub in die Familienpension Weißensee in Österreich. Die Reisen der Heimstätten Gemeinschaft dienten aber nicht nur der Erholung und dem Freizeitvergnügen. Der Verein hatte sich auch zum Ziel gesetzt, mit Städtetouren nach Paris oder Brüssel den beruflichen und kulturellen Horizont seiner Mitglieder zu erweitern. Helmut Leisegang, Mitarbeiter der Nassauischen Heimstätte im Ruhestand und Vorstandsmitglied der Heimstätten Gemeinschaft, bestätigt: "Erholung, Weiterbildung und kollegiales Miteinander gingen schon in den Anfangsjahren der Heimstätten Gemeinschaft Hand in Hand. Dahinter stand nicht zuletzt die Überzeugung der Geschäftsleitung, dass ein motiviert zusammenarbeitendes Team die außergewöhnliche Aufgabe des Wiederaufbaus besser meistern würde." Schließlich baute die Nassauische Heimstätte in den 1950er und 60er Jahren Tausende Wohnungen im Jahr, darunter viele der damals stilprägenden Großwohnsiedlungen des Rhein-Main-Gebiets.
Das Gemeinschaftserlebnis rückt in den Vordergrund
Wie das Reiseverhalten der Deutschen insgesamt wandelte sich natürlich auch das Programm der Heimstätten Gemeinschaft in den gut sechs Jahrzehnten ihres Bestehens. Das Interesse an Aufenthalten im Odenwald ließ mit steigender Mobilität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach, sodass das Ferienheim der Nassauischen Heimstätte in Lichtenberg gut zehn Jahre nach seiner Fertigstellung bereits wieder verkauft wurde. An die Stelle der Ausflugsfahrten mit dem VW-Bus traten organisierte Städtetouren, Radwanderwochen und Kurzreisen mit Reisebus, Bahn und Flugzeug. Geschäftsführer Müller, der mit seiner Wandergruppe den Anstoß zur Gründung der Heimstätten Gemeinschaft gegeben hatte, wäre sicher erstaunt darüber gewesen, dass die NH-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in späteren Jahren gemeinsam Länder wie Norwegen, Portugal, Tunesien und Spanien bereisen würden. Auch die Motivation der Teilnehmer veränderte sich im Laufe der Zeit. "Heute steht mehr noch als das Reiseziel das gemeinschaftliche Erleben im Vordergrund", weiß Adam Wysinski, Kundenbetreuer im Regionalcenter Frankfurt der NHW und 2. Vorsitzender der Heimstätten Gemeinschaft. "Das gilt für Veranstaltungen und Touren, bei denen sich aktive und ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Unternehmensgruppe über ein Wiedersehen freuen, ebenso wie für die Teambuilding-Maßnahmen, die die Heimstätten Gemeinschaft beispielsweise regelmäßig für die Auszubildenden der NHW organisiert."
"Arbeit, das könnte und müsste doch mehr sein als nur Broterwerb! Und Kollegen, das waren doch nicht nur Hoch- und Tiefbauer, Kaufleute, Personalsachbearbeiter, Architekten, Kraftfahrer oder Hausverwalter. Nein, allesamt waren sie doch Menschen, denen ein Kommunikationsbedürfnis innewohnte, die über ihre berufliche Tätigkeit hinausgehende Interessen hatten und den Wunsch, auch in ihrer Freizeit das eine oder andere gemeinsam zu gestalten und zu erleben …"
Sportlich und gesund in die Zukunft
Und wie wird es mit der Heimstätten Gemeinschaft nach Abklingen der Corona-Pandemie weitergehen? "Wir werden es langsam angehen und schauen, welche Veranstaltungen und Ausflüge in diesem und im kommenden Jahr unter Einhaltung aller erforderlichen Schutzmaßnahmen umsetzbar sind", sagt Adam Wysinski. Zum Spektrum der Vereinsaktivitäten gehört übrigens auch die gemeinsame sportliche Betätigung, wie sie schon Geschäftsführer Müller mit seiner Einladung zum Wandern angeregt hatte. So traten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Unternehmensgruppe in den letzten Jahren regelmäßig mit verschiedenen Teams bei Fußballturnieren, dem Frankfurter Firmenlauf J.P. Morgan Corporate Challenge oder dem Kasseler Drachenbootrennen Zissel-Cup an. Und dieses Standbein soll in Zukunft weiter ausgebaut werden. Befragungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch das Personalmanagement der NHW ergaben, dass im Zuge der zunehmenden Digitalisierung und Flexibilisierung der Arbeit die Nachfrage nach gemeinschaftlichen Aktivitäten rund um Fitness und Entspannung sowie sozialer Interaktion mit den Kolleginnen und Kollegen zunimmt. Paul Müller, den ehemaligen Geschäftsführer der Nassauischen Heimstätte, der all das mit seinem Aufruf zum gemeinsamen Wandern angestoßen hat, würde diese Entwicklung sicher sehr freuen.