Kulturelle Bildung sollte keine Frage des Geldes sein
Vor rund 60 Jahren gründete die Nassauische Heimstätte mit weiteren Partnern den Verein Wohnen & Leben e.V. Für viele Mieterinnen und Mieter wurde damit der Zugang zu Kulturveranstaltungen erstmals erschwinglich.
Mit ihren Siedlungsbauten der Nachkriegszeit trug die Nassauische Heimstätte maßgeblich dazu bei, dass viele Wohnungssuchende eine angemessene und bezahlbare Bleibe finden konnten. Umso bemerkenswerter ist es angesichts dieser Herkulesaufgabe, dass auch die Sorge um den nachbarschaftlichen Zusammenhalt und die Zufriedenheit der Mieterinnen und Mieter damals bereits das Selbstverständnis des Unternehmens prägte. Eine besondere Rolle kam dabei dem 1957 von der Nassauischen Heimstätte ins Leben gerufenen Kulturellen Mieterdienst "Wohnen & Leben" zu, der Angebote wie Konzerte, Lesungen, Kino und Theater auch weniger finanzkräftigen Schichten zugänglich machte. "Dies diente nicht nur der Identifikation mit der Nassauischen Heimstätte als Vermieterin. Ihr damaliger Geschäftsführer Paul Müller sah sich auch in der Verantwortung, mittels Kultur den kritischen Geist der Mieterinnen und Mieter nach der Erfahrung der Diktatur zu stärken", erklärt die heutige Leiterin des Sozialmanagements der NHW und zugleich Geschäftsführender Vorstand von Wohnen & Leben e.V., Angela Reisert-Bersch.
Vorläufer des Kulturprogramms
Bereits vor der Gründung von Wohnen & Leben verband die Nassauische Heimstätte verschiedenste offizielle Anlässe mit kulturellen Darbietungen. So entwickelten sich Richtfeste, die ursprünglich im engeren Kreis der Handwerker gefeiert wurden, in den 1950er Jahren zu Ereignissen mit Festrednern, Blaskapelle und Gesangseinlagen, zu denen auch Nachbarn sowie künftige Mieterinnen und Mieter eingeladen waren. Großer Beliebtheit erfreuten sich auch die damals raren Angebote für Kinder wie Kasperletheateraufführungen, Kinderfeste und Nikolausabende, die die Heimstätten-Jugend, ein Zusammenschluss junger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nassauischen Heimstätte, organisierte.
Ambitioniertes Programm für Groß und Klein
Wie ernst es NH-Geschäftsführer Müller mit seinen Kulturangeboten für die Mieterinnen und Mieter war, zeigte sich nicht zuletzt an der prominenten Besetzung der Leitung von Wohnen & Leben mit dem von den Nationalsozialisten entlassenen ehemaligen Geschäftsführer des Bundes für Volksbildung in Frankfurt Otto Weispfennig. Auf dem Programm standen Filmvorführungen wie "Der Hauptmann von Köpenick" oder auch Theaterstücke wie "Das Tagebuch der Anne Frank" oder "Die liebe Familie" mit der damals äußerst populären Schauspielerin Inge Meysel. Die meist als Sondervorstellungen für Wohnen & Leben gebuchten Aufführungen fanden in 30 Theatern und Sälen in sechs Städten des Rhein-Main-Gebietes statt. Auch die Literatur war Teil des Kulturellen Mieterdienstes: In den 1960er Jahren richtete die Nassauische Heimstätte in mehreren ihrer Siedlungen Leihbüchereien ein. Zudem besuchte ein Bücherbus als rollende Bibliothek Siedlungen zwischen Weilburg im Norden und Michelstadt im Süden und absolvierte dabei zwischen 6.000 und 7.000 Kilometern im Jahr.
Vom Kulturellen Mieterdienst zu Wohnen & Leben e.V.
Was zunächst als exklusives Angebot für die Mieterinnen und Mieter der Nassauischen Heimstätte gedacht war, stieß bald auch bei anderen Akteuren der regionalen Wohnungswirtschaft auf Interesse. Im Zuge der Vernetzung mit weiteren Wohnungsgesellschaften sowie kommunalen und institutionellen Partnern wurde 1963 der Verein Wohnen & Leben e.V. gegründet, der die Angebote des Kulturellen Mieterdienstes der Nassauischen Heimstätte fortan einem größeren Publikum zugänglich machte. Zu den Mitgliedern der ersten Stunde zählten neben der Nassauischen Heimstätte unter anderen die Butzbacher Wohnungsgesellschaft, die SÜWAG, die Wetzlarer Wohnungsgesellschaft und die Frankfurter Wohnheim GmbH, dazu die Deutsche Bau- und Boden-Bank und die Hessische Landesbank sowie als erste Kommune die Stadt Langen. Der Vereinszweck entsprach weiterhin dem Anspruch, der NH-Geschäftsführer Paul Müller bereits zur Gründung des Kulturellen Mieterdienstes der Nassauischen Heimstätte veranlasst hatte: Kulturelle Bildung sollte keine Frage des Geldes sein.
Bildungsanspruch und gesellschaftlicher Wandel
Das Programm von Wohnen & Leben e.V. fand von Beginn an regen Zuspruch: Bei seiner Pensionierung 1968 konnte Programmleiter Weispfennig auf eine Erfolgsbilanz von fast 1.600 Veranstaltungen mit über 400.000 Besucherinnen und Besuchern (davon rund ein Viertel Kindern) zurückblicken. "Das starke Interesse an den Angeboten von Wohnen & Leben zeigt, dass trotz aller wirtschaftlichen Herausforderungen der damaligen Zeit ein riesiges Bedürfnis nach Kultur und Austausch mit Gleichgesinnten bestand", so Reisert-Bersch. Bei oft engen Haushaltsbudgets machte es eben einen gewaltigen Unterschied, ob Mieter 24 Mark für einen guten Theaterplatz ausgeben mussten oder die Karte dank Abo zum halben Preis erhielten. Die Situation änderte sich in den 1970er Jahren mit der Verteuerung von exklusiv für den Verein buchbaren Sondervorstellungen bei einer zugleich steigenden Zahl frei zugänglicher Kulturangebote. Für die Programmgestaltung von Wohnen & Leben e.V. bedeutete das eine Verschiebung des inhaltlichen Schwerpunkts von Konzerten, Film- und Theateraufführung hin zu Angeboten rund um Reisen, Besichtigungen und geselliges Miteinander.
Das gemeinsame Erleben im Vordergrund
"Mittlerweile liegt der Fokus von Wohnen & Leben e.V. vor allem auf der Ermöglichung sozialer Teilhabe für unsere Mitglieder", so Reisert-Bersch. Stadtführungen, Tagesausflüge und Kurzreisen gehören zu den beliebtesten Vereinsangeboten von Wohnen & Leben, die vor allem von Seniorinnen und Senioren gerne in Anspruch genommen werden. Daneben engagiert sich der Verein, der aktuell neben Nassauischer Heimstätte und Wohnstadt durch die Beamtenwohnungsverein e.G., die GWH Wohnungsgesellschaft Hessen mbH, die Wirtschafts- und Infrastrukturbank Hessen, die gewobau Rüsselsheim sowie die Kommunen Frankfurt und Schwalbach getragen wird, auch in der sozialen Quartiersarbeit. Das kann die Renovierung eines Mietertreffs ebenso wie ein Kulturevent sein, das die Mieterinnen und Mieter einer Siedlung aktiv zusammenbringt. Reisert-Bersch: "Die Interessen unserer Mitglieder sind heute sicher andere als zu Zeiten der Vereinsgründung von Wohnen & Leben. Der Bedarf an kulturellen und sozialen Angeboten, die auch für weniger finanzkräftige Teilnehmerinnen und Teilnehmer erschwinglich sind, ist aber immer noch vorhanden und motiviert uns, weiter ein abwechslungsreiches Programm für unsere Mieterinnen und Mieter zu gestalten."